Symbol und Praxis oder: Die Unverzichtbaren

Die Zwölf ist eine mythische Zahl, sie steht für Vollkommenheit. Zwölf Monate machen ein Jahr komplett und zwölf (Halb-)Töne eine Oktav, in zwei Mal zwölf Stunden haben Tag und Nacht je einmal ihre Runde gemacht. Zwölf Stämme bildeten das alte Volk Israel, zwölf Vertraute begleiteten den Gründer der hier landläufigen Religion und trugen seine Lehre durch die Lande, zwölf Tore führen in das himmlische Jerusalem, die erträumte Stadt einer freien Menschheit.

Zwölf Cellisten beschäftigen die Berliner Philharmoniker - die Zahl birgt Hintersinn, die bloße, mythenfreie Tatsache aber wirft mancherlei praktische Schwierigkeiten auf. Sie fordert Findigkeit und Witz heraus. Denn wenn die Zwölf in eigener Sache unterwegs sind, kann der Rest des Orchesters einpacken, es wäre denn Blasmusik angesagt, und das ist selten der Fall. Es gibt zwar symphonische Literatur ohne Geigen, aber (fast) keine ohne Celli. Ihnen kommt eben im Orchester doch eine Schlüsselfunktion zu, man mag es drehen und wenden, wie man will: Sie sind unverzichtbar.

Ihre Auftritte können demnach nur in der dienstfreien Zeit liegen, dann, wenn weder Konzerte, noch Aufnahmen, noch Proben auf dem Terminplan stehen. Konzerttage liegen zwar weit im Voraus fest, auch die Produktionstermine für Platten und andere Medien; Probenpläne aber können sich kurzfristig ändern, und so müssen die Zwölf in ihre Verträge immer eine Sonderklausel einbauen, die sonst nur für den Fall höherer Gewalt gilt: Sie sind nur unter gesamtphilharmonischem Vorbehalt zu haben, denn Orchesterdienst geht vor Nebentätigkeit, wie exklusiv und imagebildend diese auch immer sein möge.

Ernstliche Konflikte hat es deswegen in der Geschichte der Zwölf noch nicht gegeben, aber manche brenzlige Situation, die gewiß in die Anekdotensammlung des Orchesters eingehen wird. Wenn zum Beispiel die höhere Gewalt in Gestalt des himmlischen Wetterdienstes den philharmonisch-cellistischen Planungen ein eisiges Schnippchen schlug, war höchste organisatorische Kreativität verlangt.

So an jenem ersten Dezembersonntag des Jahres 1986, dem Tag, an dem der Eisregen kam. Für abends, 21 Uhr, war im Dom zu Frankfurt am Main ein Benefizkonzert unter der Schirmherrschaft des damaligen Oberbürgermeisters Walter Wallmann vereinbart. Alles war perfekt durchorganisiert. Hin sollte es per Flugzeug gehen, für die Rückreise mußte der Nachtzug gewählt werden, denn am nächsten Morgen war Probe unter Herbert von Karajan. Der Zug, der einzige in jenen Zeiten der deutsch-deutschen Trennung, ging nachts um halb elf, Spielraum war also wenig, die Planung war professionell minutiös. Am späten Nachmittag aber setzte in Berlin der Eisregen ein. Er putzte die Stadt zumindest verkehrspolitisch spiegelblank. Die Flüge ab Berlin wurden gestrichen. Was tun?

Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker

Hier half nur das kluge Zusammenspiel zwischen internationalen und persönlichen Verbindungen. Ein PanAm-Pilot, Freund eines der zwölf Cellisten, erreichte das fast Unmögliche: die Starterlaubnis für eine Maschine, die er persönlich nach Frankfurt flog, die Musiker an Bord.

Der angekündigte Konzertbeginn war bereits verstrichen, als in Frankfurt die Landeerlaubnis erteilt wurde. Auch das nur mit Mühe, denn über der Mainmetropole hing inzwischen dichter Nebel; die meisten Flüge wurden nach Stuttgart umgeleitet. Der Pilot aber fand die rettende Lücke und landete sicher. Vom Flughafen ging es für zehn der zwölf Cellisten in schneller Fahrt zum Dom. Dort warteten die zwei übrigen auf ihre Kollegen und teilten dem gebannt-gespannten Publikum mit, wo sich die zehn Findigen aus Berlin gerade befanden. Als sie eintrafen, wurden sie mit enthusiastischem Applaus begrüßt, als sie ihr notgedrungen verkürztes Programm beendet hatten, wurden sie ebenso begeistert verabschiedet. Der Beifall galt, wie immer, ihrer künstlerischen, in diesem Fall aber auch ihrer organisatorischen Leistung.